Zuhören ist schwer – es ist beispielsweise schwerer, als zu reden.

Oft meinen wir zu wissen, was jemand sagen wird, ehe er/sie den ersten Satz beendet hat. Erwiderungen haben wir schnell parat, ohne wirklich zuzuhören.
Und wenn wir doch zuhören: Geht es wirklich darum, die Meinung des/der anderen wahrzunehmen oder suchen wir eher nach der Bestätigung unserer vorab gefällten Urteile über diese Person?
Wie viele Meinungsverschiedenheiten und Konflikte entstehen, weil wir einander nicht zuhören. Wie viele Auseinandersetzungen und gegenseitige Verletzungen könnten vermieden werden, wenn wir unser Gegenüber wirklich wahr- und ernstnehmen würden?

Jesus hört zu

Jesus war nicht nur ein besonderer Redner, er war auch ein guter Zuhörer.
Eines Tages war Jesus in Jerusalem. Die Menschen waren gekommen, um ihm zuzuhören. Er erzählte ihnen von Gottes neuer Welt, die wir unter uns erleben können.
Da kamen einige Gelehrte, die sich in den Schriften des Ersten Testaments gut auskannten und die versuchten, nach Gottes Willen zu leben. Sie hatten eine Frau bei sich, die – wie es heißt – beim Ehebruch überrascht worden war.
Nun fragten sie ihn: „In den Büchern der Tora schreibt uns Mose vor, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du dazu?“

Zuhören, um zu verstehen

Ich nehme an, Jesus hat die Frager genau beobachtet und sich dann überlegt: „Warum fragen die mich eigentlich, wenn die Angelegenheit doch klar geregelt ist?“

Wenn er ihnen jetzt geantwortet hätte: „Ja, das ist Gottes Wille, sie muss gesteinigt werden“, dann hätten sie sich gesagt: „Jesus stimmt uns zu, er hat also nichts anderes zu sagen als wir.“ Oder, wenn sie ihm schaden wollten, hätten sie gesagt: „Jesus spricht sich für die Todesstrafe aus, die allein den Römern zusteht. Jesus widersetzt sich damit den Römern“ – und das hätten sich die Römer nicht bieten lassen.

Jesus hat sich Zeit gelassen. Er schrieb mit dem Finger in den Sand – heißt es. So konnte er das Gehörte ungestört bedenken.
Gleichzeitig wurden die Frager ungeduldig – vielleicht haben sie ihm durch die eine oder andere Bemerkung auch noch weitere Hinweise gegeben, was sie mit dieser Frage beabsichtigten. So hat er ihre Motive erkannt und durchschaut.

Hätte er ihnen aber geantwortet: „Ja, das ist Gottes Willen, aber wir sind nicht berechtigt, dieses Todesurteil auszuführen“, dann hätten sie ihm vorgeworfen: Er verleugnet Gottes Willen.

Zuhören eröffnet Perspektiven

Nun sind aber nicht nur die Frager da und die anderen Menschen, die Jesus zunächst zugehört hatten und die jetzt zum Publikum dieser Auseinandersetzung wurden: es ist auch die Frau da, die die Männer herbeigeführt haben.

Es ist auch die Frau da – doch irgendwie tritt sie überhaupt nicht in Erscheinung. Sie scheint sich nicht dagegen zu wehren, dass sie so vorgeführt wird, sie scheint auch nichts gegen die Anschuldigungen zu sagen, die gegen sie erhoben worden sind.

Um zuhören zu können, braucht es neben den offenen und neugierigen Ohren auch noch eine besondere Haltung zum Gegenüber: Empathie – die Fähigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen, Mitgefühl mit einer Person zu haben.
Jesus hat mit der Frau gefühlt, hat sich wohl ein Stück weit in sie hineinversetzen können: Auch sie ist ein Geschöpf Gottes, auch sie verdient Achtung – was auch immer sie getan hat. Und diese Männer, die sie zu Jesus gezerrt haben und sich mit den Weisungen Gottes brüsten: Haben sie nicht durch ihr Verhalten eben diese Weisungen Gottes mit Füßen getreten?

Die Situation auf den Punkt bringen

Ich kann mir vorstellen, wie Jesus zwar äußerlich ruhig war, innerlich aber kochte über diese Scheinheiligkeit.
Und auf geschickte Weise hält er ihnen das vor: „Ihr meint, ihr kennt Gottes Weisungen und lebt nach ihnen – und dann verhaltet ihr euch so? Ich habe euch durchschaut: Ihr ladet Schuld auf euch. Von daher steht euch kein Urteil über diese Frau zu. Wer von euch ohne Schuld ist, soll den ersten Stein auf sie werfen.“
So treffsicher zu antworten gelingt nur dem, der gut zuhört und der, die die Motive des anderen überdenkt. Jesus hat uns auch darin Gottes Weisungen deutlich gemacht.

Die Situation auf den Punkt bringen

Schließlich nimmt die Situation eine erstaunliche Wendung: Jesus spricht die Frau an. Er fragt sie: „Hat dich niemand verurteilt?“Als sie ihm sagt, dass niemand sie verurteilt habe, sagt er ihr: „Ich verurteile dich auch nicht.“

Das macht Mut. Hier zeigt Jesus, was er an anderer Stelle auch gelehrt hat:

„Seid barmherzig, so wie Euer Vater im Himmel barmherzig ist. Verurteilt andere nicht, dann wird auch Gott euch nicht verurteilen.“
Lukasevangleium 6, Vers 36

Aus dieser Erfahrung kann die Frau ihr Leben ändern. Dazu ermutigt Jesus sie und sagt ihr: „Geh, und lad von jetzt an keine Schuld mehr auf dich.“

Zuhören ist schwer. Aber wenn wir aufmerksam zuhören, eröffnen sich uns neue Möglichkeiten, denn wir hören dann nicht nur die anderen, in ihnen und durch sie hören wir auch Gott.


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