Ich sitze vor einem leeren Dokument an meinem PC – lediglich die Überschrift habe ich schon geschrieben: „Seid barmherzig!“. Die ist vorgegeben. Oder habe ich sie mir nur vorgegeben?
Wie ist das mit dem neuen Jahr? Liegt ein leeres Blatt vor mir? Oder finde ich da schon Überschriften, Themen, Termine? Was davon gebe ich mir vor? Was ist mir vorgegeben – familiär, privat oder auch beruflich?

Noch ein Vorsatz fürs neue Jahr?

„Seid barmherzig!“ Eine Aufforderung! Soll ich die auch noch beherzigen?

Habe ich mir nicht schon genug für das neue Jahr vorgenommen? Und weiß ich nicht auch schon im Voraus, dass ich diese Vorsätze auch im kommenden Jahr höchstens ansatzweise umsetzen werde – wie auch schon im letzten Jahr?

Barmherziger Blick auf das letzte Jahr

Das zurückliegende Jahr war eine besonderes Jahr: ein Jahr, in dem vieles passiert ist, was sich wohl die wenigsten haben vorstellen können, und auch ein Jahr, in dem vieles nicht möglich war, was uns vorher so selbstverständlich erschien. Es war ein Jahr, in dem wir darüber staunen konnten, wie viele Menschen sich für andere einsetzten. Sie halfen – teilweise bis zur eigenen Erschöpfung oder haben sich bei ihrem Engagement auch infiziert. In diesem Jahr haben wir aber auch erlebt, dass Ungeduld und Egoismus, ideologischer Missionseifer und Hasstiraden nicht länger auf die Ränder der Gesellschaft beschränkt sind.
Wir sind Teil dieser Entwicklungen: in manchem Teil des Problems, in anderem vielleicht auch Teil der Lösung. Wir können dieses Jahr mit allem, was uns gelungen ist, mit dem, was nicht gelungen ist und auch mit dem, bei dem wir Schuld auf uns genommen haben, zurück in Gottes Hände geben. Er wird es mit Barmherzigkeit ansehen. Und auch wir können auf dieses Jahr barmherzig zurückblicken.

Jesus sagt:
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“
(Lukas 6, Vers 36)

Gott ist barmherzig. Das bedeutet, er ist mitfühlend, gnädig, mit-leidend. Und weil wir erleben, dass Gott uns so ansieht, können auch wir uns selbst und anderen gegenüber barmherzig sein. Was das bedeutet, beschreibt Jesus folgendermaßen: „Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben“ (Lukas 6, Vers 37).

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Diese Worte Jesu sollen und können uns durch das neue Jahr begleiten. Es ist eine Aufforderung an uns, unser Leben, unser Reden und Handeln kritisch zu betrachten: Habe ich den / die andere im Blick oder mache ich mich selbst zum Maßstab aller Dinge? Aber auch: kann ich mich selbst humorvoll und mit Abstand betrachten, mich mit gnädigen Augen ansehen?

Wir können barmherzig sein

Jesus sagt, dass wir barmherzig sein können, weil wir Barmherzigkeit erleben – durch unsere Mitmenschen und so durch Gott: Es gibt den überraschenden Ausweg aus einer völlig verfahrenen Situation. Uns wird eine Hand entgegengestreckt, die wir ergreifen können. Ein Gespräch, eine Begegnung ist so wunderbar, dass sich der Himmel für uns öffnet.

Aber – das sei an dieser Stelle auch nicht verschwiegen: Diese Barmherzigkeit Gottes ist kein Automatismus. Es gibt Situationen, in denen ich mitfühlend und barmherzig bin – und doch Zurückweisung erfahre oder sogar Spott ernte. Mein Gegenüber hat genau wie ich die Möglichkeit, ohne Gott und ohne seine Barmherzigkeit zu leben. Diese Freiheit hat uns Gott gegeben. Und so kann Begegnung auch misslingen, zum Leiden führen statt zur gegenseitigen Stärkung.

„Seid barmherzig!“ Diese Überschrift stand über dem sonst leeren Dokument im PC. So, wie sich dieses Dokument gefüllt hat, wird sich auch das neue Jahr füllen. Möge es eine Auslegung der Zusage werden: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.“

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