Ein Autor besucht für sein Buch über schottischen Whisky einen Freund in dessen Destillerie. Etwas überrascht stellte er fest, dass der Freund ihm ein leeres Whisky-Glas und eine Flasche Whisky hinstellte – früher hatte er immer ein volles Glas bekommen.
Auf seine Nachfrage antwortete der Freund: „Wenn ich dir einschenke, schenke ich aus Höflichkeit mehr ein, als üblich ist. Wenn du dir einschenkst, nimmst du aus Höflichkeit weniger, als üblich ist.“

Abram und Lot am Scheideweg

Diese Begebenheit kam mir in den Sinn, als ich die Geschichte von Abram und Lot las, die uns in dieser 5. Fastenwoche begleitet. Dort heißt es, dass Abram (der später zu Abraham umbenannt wurde) und sein Neffe Lot mit ihren Familien, ihrem Vieh und ihren Hirten in den Süden Kanaans, in die Nähe von Beth-El gezogen waren. Doch das Land war nicht groß und ertragreich genug, dass sich beide dort hätten ansiedeln können. So kam es immer wieder zu Streit zwischen ihnen.

Schließlich sagte Abram zu Lot:

„Zwischen dir und mir soll es keinen Streit geben (…). Wir sind doch miteinander verwandt!
Liegt nicht das ganze Land vor dir? Es ist besser, wenn wir uns trennen. Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts. Willst du aber nach rechts, dann gehe ich nach links.“
(1. Mose [Genesis] 13,8-9; Übersetzung: BasisBibel)

Lot sah das wasserreiche und fruchtbare Jordanland vor sich. Sollte er nun höflich sein und diese wunderbare Gegend seinem Onkel überlassen? Wir finden keinen Hinweis darauf, dass er zögert oder sogar nachdenkt. Er wählt sich das Jordanland aus.

Sinnvolle Großzügigkeit?

Hat Abram klug gehandelt, indem er Lot die Entscheidung überlassen hat? Oder hat er sich verkalkuliert, als er mit der Rücksicht und Höflichkeit des Lot ihm, seinem Onkel gegenüber, gerechnet hat?

In der Bibel heißt es nur, dass Abram sich im Land Kanaan niederließ – keine Freude, kein Bedauern über diese Entscheidung ist den Worten zu entnehmen.

Lots Entscheidung

Ich wundere mich über diesen Lot: Abram bekam von Gott den Auftrag aufzubrechen. Das Ziel war unbekannt. Nur die Verheißung eines großen Landes und einer großen Nachkommenschaft hatte Gott ihm gegeben. Und Lot war mit seiner Familie und allem, was er hatte, mitgezogen, bis nach Ägypten. Nun zieht Abram zurück nach Kanaan – und Lot ist immer noch dabei.

Aber jetzt, auf einmal, klappt das Zusammenleben nicht mehr. Das Land reicht nicht aus, der Raum ist zu eng. Abram macht den Vorschlag, sich zu trennen – und lässt Lot sogar wählen.
Hätte der sich da nicht aus Dankbarkeit gegenüber dem Onkel eine andere Gegend aussuchen können als ausgerechnet das Jordantal, von dem es heißt, dass es damals fruchtbar war „wie der Garten des HERRN“? Stattdessen schickt er Abram sozusagen in die Wüste.

Großzügigkeit kann Räume eröffnen

Und doch war es gut, dass Abram so großzügig war. Denn dadurch wurde ein Trennung ohne Streit und Verletzungen möglich. Ja, er bezeichnet seinen Neffen sogar als „Bruder“, so nahe sind sie sich nun.
Und das wird im Weiteren auch wichtig, denn es gibt kriegerische Auseinandersetzungen im Jordantal und Lot wird gefangen genommen. Abram erfährt es, zieht los und befreit ihn, seine Familie und seinen ganzen Tross.

Abrams Großzügigkeit war mutig, denn sie war nicht ohne Risiko für ihn: Er konnte sicherlich nicht voraussagen, wie sich sein Verhältnis zu Lot entwickeln wird und auch nicht, ob er gute Lebensbedingungen in Kanaan vorfinden wird. Doch er ist dieses Risiko mutig eingegangen. Dadurch hat er Lot und sich den Raum gegeben, den beide brauchten, um gut leben zu können.

Schenkt reichlich ein

Der Whisky-Destiller hat durch sein Verhalten sicherlich einiges an Whisky gespart. Aber an die Stelle einer großzügigen Gastfreundschaft ist eine berechnende Beziehung geworden. Die Frage des Gastes: wie viel darf ich mir nehmen ? ist an die Stelle der entgegenkommenden Geste getreten. Bleibt da genügend Raum für eine gute Beziehung?
Darum: Schenkt reichlich ein!

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