Am 27. Januar 1945 wurde das Vernichtungslager Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit. Seit 2006 ist es der von den Vereinten Nationen ausgerufene „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. An dem Gedenken an die 6 Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden beteiligen sich viele Menschen in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #Weremember.

Gedenken – ich setzte mich in Beziehung

Zu gedenken bedeutet, mich zu diesem Ereignis oder Geschehen in Beziehung zu setzen, seine Bedeutung für mein Leben zu bedenken. Die Vernichtung der Jüdinnen und Juden allein aufgrund ihres Glaubens und Bekenntnisses bedeutet dabei für mich als Christen eine besondere Anfrage: Was hatten Christinnen und Christen mit diesen schlimmen Ereignissen damals zu tun? Wie stehen wir heute zu Antijudaismus und Antisemitismus?

Ich aber sage euch…“ – Auslegung oder Gegensatz?

Dabei ist die Frage, wie ich die Bibel verstehe und interpretiere, von entscheidender Bedeutung, denn es gibt Menschen, die ihre antijüdischen und antisemitischen Auffassungen meinen mit der Bibel begründen zu können – völlig zu unrecht, wie ich meine.

Das möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Im Matthäusevangelium ist uns eine Rede Jesu überliefert, die er auf einem Berg gehalten hat. In einem Abschnitt dieser Rede legt er Sätze aus seiner Bibel aus, unserem sogenannten Alten Testament. Jede Auslegung beginnt er mit den Worten: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist …“ – und dann folgt ein Zitat aus der Bibel. Seine anschließende Auslegung leitet er mit den Worten ein: „Ich aber sage euch …“.

Was bedeutet es, wenn Jesus etwas zu dem sagt, was bereits gesagt wurde? In der christlichen Tradition ist dieser Abschnitt der Rede Jesu als „Antithesen“ bezeichnet worden. Eine Antithese ist dabei eine Gegenbehauptung zu dem vorher Gesagten. Und so entsteht der Eindruck, dass Jesus mit seinen Aussagen das aufheben will, was er zuvor zitiert hat. Diesen Gegensatz lesen manche Ausleger*innen bis heute aus dieser Rede Jesu.

Christ*innen als „Werkzeuge Gottes“?

Und das hat Folgen – und da sind wir wieder bei dem eingangs erwähnten Gedenktag und seiner Bedeutung für mich heute: Es gibt die Auffassung, dass unser christlicher Glaube in Jesus den jüdischen Glauben erfüllt und überboten habe. Wir seien das wahre Volk Gottes. Entsprechend besteht nur für die Jüdinnen und Juden Hoffnung, die sich zum christlichen Glauben bekehren – alle anderen sind von Gott verworfen und sind verloren.

Manche nutzen weitere Aussagen aus dem Neuen Testament, um ihre Meinung zu belegen, dass das Schicksal der Verfolgung und Vernichtung der Menschen jüdischen Glaubens eine Strafe Gottes sei. Darüber hinaus meinen einige, sie hätten den Auftrag, Werkzeuge dieses Zorns Gottes zu sein. Welch eine Hybris! Welch eine Arroganz und Gotteslästerei, sich zum Werkzeug Gottes zu erklären, sich an die Stelle Gottes zu setzen! Aber gerade weil Christinnen und Christen das in der Vergangenheit getan haben – und manche bis heute tun! – ist ein Gedenken so wichtig.

Lesen der Bibel und „Streit“ um die angemessene Auslegung

Und zu dem Gedenken gehört auch die ernsthafte Beschäftigung mit dem, was da geschehen ist und mit den Gründen, warum es so geschehen ist. Für uns bedeutet dies, dass wir uns intensiv mit der Bibel beschäftigen müssen und dass wir alle Aussagen in ihrem Zusammenhang betrachten sollten und möglichst auch versuchen sollten, Hintergrundinformationen zu bekommen. Sicherlich gibt es auch dann weiterhin unterschiedliche Auffassungen, wie ein Abschnitt aus der Bibel, wie eine Rede Jesu zu verstehen ist, aber es zeigen sich Tendenzen und wir können in einen lebendigen Austausch über ein angemessenes Verständnis treten – wie das im Judentum auch üblich war und ist.

Eine solche Auslegung will ich hier versuchen: Kurz vor diesen sogenannten „Antithesen“ sagt Jesus, dass er die Weisungen des Gesetzes und der Propheten nicht aufheben wolle. Wieso sollte er das anschließend dann doch tun?

Wenn ich in einer Predigt einen Abschnitt aus der Bibel auslege, dann lege ich dar, welche Bedeutung dieser Abschnitt für unser heutiges Leben hat – oder haben kann. Genau so beschäftigen sich jüdische Schriftgelehrte mit ihrer Schrift, mit den Weisungen und den Propheten: Sie legten sie für ihre Zeit und ihre Lebenssituation aus. Und dabei kam es zu sehr unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Auffassungen. Genau wie die anderen Schriftgelehrten hat auch Jesus in seiner Rede auf dem Berg Leitsätze aus den (alttestamentlichen) Weisungen gedeutet, damit seine Zuhörerinnen und Zuhörer die Bedeutung dieser Weisungen Gottes für ihr Leben erkennen konnten.

Aufgrund der verschiedenen Deutungen gab es unterschiedliche jüdische Glaubensrichtungen. Das Christentum war zunächst eine solche. Aber nach den Erfahrungen des Kreuzestodes Jesu und seiner Auferweckung hat es sich nach und nach vom Judentum getrennt, weil manche Auffassungen sich zu stark voneinander unterschieden. Aber wir können Jesus nur dann als den Messias verstehen, wenn wir ihn im Zusammenhang mit seinem jüdischen Glauben sehen.

Paulus und die Erwählung durch Gott

Der Apostel Paulus hat als Pharisäer seinen jüdischen Glauben verteidigt und die Christen verfolgt. Nach seiner Berufung durch Christus hat ihn die Frage umgetrieben, wer denn nun Volk Gottes sei: das Judentum oder das Christentum. Seine Antwort ist eindeutig: Gott hat sich das Judentum auf ewig erwählt, es ist – mit einem biblischen Bild gesprochen – der edle Ölbaum. Christinnen und Christen sind wie Zweige eines wilden Ölbaums, die in den edlen Ölbaum eingepfropft werden, um von ihm genährt zu werden. Deshalb sollen wir dankbar wissen:

„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“
(Römer 9, Vers 18)

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