Die meisten von uns erzählen anderen gerne von sich: wie es ihnen geht, was sie so beschäftigt, aber auch von Erlebnissen aus zurückliegender Zeit.
Gerade bei Erinnerungen an etwas, das länger zurückliegt, kann es aber passieren, dass wir felsenfest davon überzeugt sind, dass es so war und nicht anders – und dass uns unser Gedächtnis dann einen Streich gespielt hat: Freunde oder Familienmitglieder widersprechen uns, haben es aber schwer, uns zu überzeugen.
Erzählen verändert mich
Wir erzählen anderen von uns, damit sie uns in einem bestimmten Licht sehen, damit sie uns so sehen, wie wir gesehen werden wollen.
Und: indem wir anderen etwas erzählen, verändert sich auch unser Verhältnis zu diesen Ereignissen. Oder sollte ich sagen: wir passen die Ereignisse dem an, wie wir sie gerne sehen möchten?
Kurz: wenn wir anderen von uns erzählen und wenn wir mit ihnen über etwas sprechen, verändern wir uns und verändern sich die anderen.
Das gilt für uns Erwachsene und Ältere, das gilt aber noch mehr für die Jugendlichen und Kinder. Von daher fehlen gerade ihnen durch die Corona-Einschränkungen wichtige Bausteine für ihre Entwicklung zu Persönlichkeiten.
Erzählen schafft Zusammenhalt
Wenn wir erzählen – und wenn wir zuhören, eignen wir uns Geschichte und Geschichten an. Wir eignen sie uns anders an, als wenn wir einem Vortrag zuhören oder einen Bericht lesen.
Deshalb ist das Erzählen so wichtig für uns.
Und deshalb ist die Bibel auch keine Sammlung von Berichten, sondern von Erzählungen.
Die Menschen haben sich die Geschichten und Begebenheiten, die Gebete und Weisheiten jahrhundertelang weitererzählt, ehe sie aufgeschrieben und uns im Ersten (Alten) Testament überliefert wurden – beim Zweiten (Neuen) Testament waren es einige Jahrzehnte.
Wie wichtig dieses Erzählen ist, wird am Ablauf der Pessach-Feier deutlich. Das Volk Israel hat dieses Fest erstmalig in der Nacht in Ägypten gefeiert, ehe sie mit Gottes Hilfe aus der Sklaverei geflohen sind. Seitdem sollen sie jedes Jahr dieses Fest feiern. Und an einem Punkt bei diesem Fest soll der Jüngste der Familie fragen, was das besondere an diesem Abend ist. Und der Vater erzählt die Geschichte von der Befreiung aus Ägypten. Er erzählt sie, als wären sie alle dabei gewesen, als hätten sie das alle gemeinsam erlebt. So wird jeder Jude zu einem Teil dieser Geschichte Gottes mit seinem Volk. So wird die Befreiung zum Teil des Lebens und der Identität jeder Jüdin.
Jesus hat wie alle Juden das Pessachfest gefeiert – und auf besondere Weise gedeutet. So wurde es zum Abendmahl. Und auch zu Beginn des Abendmahls erzählen wir von der ersten Feier, damit wir Teil dieser Geschichte Gottes mit der Welt werden und damit diese Geschichte zu unserer Geschichte mit Gott wird.
Solche Erzählungen stärken den Zusammenhalt: Ich gehöre dazu, bin Teil des Ganzen.
Gefährliche Erzählungen
Solche Erzählungen können aber auch gefährlich sein: Was Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern erzählt hat, hat die politisch wie religiös Herrschenden zur Weißglut gebracht – und ihm letztlich den Tod.
Nach Jesu Tod wurden Geschichten von ihm erzählt – und auch das war für die ersten Christinnen und Christen nicht ungefährlich.
Das möchte ich an einer Erzählung verdeutlichen:
Jesus fuhr mit seinen Jüngern über den See. Sie machten sich auf den Weg zur Stadt Gerasa. Bald kam ein Mann zu ihm, der war von einem bösen Geist besessen. Jesus fragt den Bösen Geist nach seinem Namen. Und der Antwortet: „Ich heiße Legion, denn wir sind viele.“
Zum Hintergrund dieser Erzählung: Israel-Palästina war zu der Zeit von den Römern besetzt. Das römische Heer war in „Legionen“ unterteilt, die ungefähr 5.000 Mann zählten.
Und diese furchterregende „Legion“ bittet Jesus, sie nicht zu quälen.
Sie sagt zu Jesus: „Ordne uns ab in die Schweine, damit wir in sie hineinfahren.“ Und die Christinnen und Christen erzählten sich weiter:
„Und er (Jesus) gab ihnen die entsprechende Order. Und die unreinen Geister kamen heraus und fuhren in die Schweine, und die Herde stürmte im Gleichschritt den Abhang hinab – in das Meer, etwa 2000, und sie ersoffen im Meer“
Und wenn man dann noch bedenkt, dass die Römer übers Meer nach Palästina kamen und dass die 10. Legion der Römer in ihrer Fahne den Eber, also ein Schwein führten – dann wird deutlich, was die Aussageabsicht ist, wenn sich die Legion Schweine ins Meer stürzt.
Solche Erzählungen im von Römern besetzten Palästina zu erzählen, war lebensgefährlich. Und doch haben sich die Christinnen und Christen mit diesen Erzählungen abgegrenzt von der Herrschaft der Römer – und letztlich entwickelte sich das römische Reich so, dass aus dem staatsfeindlichen Christentum die Religion des römischen Reiches wurde. Und es hat das römische Reich überlebt.
Was erzählen wir?
Wie erzählen wir uns diese Geschichten weiter? Können auch wir Teil dieser Geschichte Gottes mit uns Menschen werden?
Müssten wir nicht auch Geschichten erzählen, die Machtansprüche in Gesellschaft und Politik ins Lächerliche ziehen, um diese Machtansprüche zu Begrenzen, weil sie Gottes für uns guten Weisungen widersprechen?
Die meisten von uns erzählen anderen gerne von sich. Wir sollten uns aber viele Geschichten von Gott erzählen – denn auch das verändert uns: So werden wir zu einer Gemeinschaft, die die Welt und was in ihr passiert, kritisch begleitet – und das mit Humor, wie er in der Erzählung von „Legion“ aufblitzt.