Menschen haben erlebt, wie Gott sie aus bedrückenden Lebensverhältnissen befreit und ihnen eine neue Lebensperspektive schenkt. Das erzählen sie einander weiter, um sich an diesen befreienden Gott zu erinnern. So stärken sie sich gegenseitig.
Die Erzählung vom Turmbau zu Babel ist eine solche Geschichte: gegen despotische Machtbestrebungen mit vereinheitlichter Sprache und der steingewordenen Gigantomanie eines Turmes hat Gott die Freiheit, hat Gott die Vielfalt der Sprachen und Dialekte gesetzt. So konnte dieses Projekt des Turmbaus nicht vollendet werden, so wurde und so bleibt das Herrschen unmöglich.

Sprachenvielfalt – ein Segen?

Ist diese Vielfalt der Sprachen also ein Segen?
Meine Antwort lautet: Ja und Nein.

Ja, wenn dadurch möglich wird, dass Machtinteressen nicht durchgesetzt werden können.
Und auch: ja, wenn es möglich ist, dass wir uns verstehen, wenn es ein Band gibt, das uns verbindet.

Es kann aber auch sein, dass die Vielfalt der Sprachen alles andere als ein Segen ist: Ich erlebe, dass wir die gleichen Wörter benutzen und uns doch nicht verstehen. Das betrifft das Gespräch zwischen den Generationen, aber auch zwischen Menschen aus verschiedenen Arbeits- und Lebenswelten. Ich habe den Eindruck, dass das auch für Bereiche unserer kirchlichen Sprache und Tradition zutrifft: sie sagt vielen Menschen in dieser Form einfach nichts mehr. Und das, obwohl Menschen nach dem lebendigen Gott suchen, der sie in ihrem Leben begleitet, der ihrem Leben Sinn und Ziel gibt.

Vor allem aber bei politischen Vorgängen in der letzten Zeit und besonders jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie wird mir besonders deutlich, wie schwer es ist, sich zu verstehen, ja überhaupt noch miteinander zu sprechen. Eine zunehmende Aggressivität in Auseinandersetzungen, verbale Pöbeleien, Drohungen gegen Menschen, die eine andere Meinung haben bis hin zu tätlicher Gewalt sind die sichtbaren Begleiterscheinungen dieses Abbruchs des Gespräches miteinander.

Dialog – im Vertrauen

Um diese für die Gesellschaft so wichtige Kommunikation miteinander aufrecht zu erhalten, müssen wir auch über den eigenen Schatten springen. Denn wir nehmen vieles nur selektiv wahr: wir nehmen vor allem das auf und verinnerlichen, was die eigene Meinung bestärkt. Anderes, was kritisch zu unserer Meinung steht, ignorieren wir schnell.
Das sollten wir uns gelegentlich bewusst machen und auch: Wenn jemand eine andere Meinung hat, will er mir damit noch lange nicht die Berechtigung meiner Meinung absprechen. Vielmehr kann die Vielfalt der Ansichten, Meinungen und Informationen zu einer Auseinandersetzung und zu einer konstruktiven Lösung führen.

Und manchmal muss man dann auch anerkennen, dass es die Lösung nicht gibt, dass es mehr als eine Wahrheit gibt. Dazu ist aber nötig, sich auf anderes und auf den Anderen, die Andere einzulassen.
Das ist möglich, wenn alle von dem Konsens getragen sind, dass es um eine gemeinsame Suche nach einem guten Weg geht. Dieses Gespräch, diese Auseinandersetzung vermisse ich mittlerweile in vielen Bereichen.

Manchmal ist es nötig, eindeutig „Nein!“ zu sagen

Daneben gibt es aber auch Verhaltensweisen und Auffassungen, zu denen wir eindeutig und entschieden „Nein!“ sagen müssen. Zum einen gilt das ganz allgemein, wenn solche Auffassungen unserem gesellschaftlichen Konsens widersprechen.

Zum einen gilt das ganz allgemein, wenn solche Auffassungen unserem gesellschaftlichen Konsens widersprechen. Eine Gesellschaft, eine Demokratie muss tolerant sein – toleranter, als die Einzelnen es oftmals sein können. Die Diskussion um die Verletzung religiöser Gefühle hat das in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Aber diese Toleranz findet ihre Grenze da, wo die Regeln der Gesellschaft dazu genutzt werden, die Gesellschaft, die Demokratie einzuschränken und letztlich abzuschaffen.

Zum anderen haben wir als Christinnen und Christen eine besondere Verpflichtung, uns für die Gesellschaft einzusetzen, in der wir leben:

„Suchet das Wohl der Stadt, in die ich euch weggeführt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl liegt euer Wohl!“
(Jeremia 29, Vers 7,
Übersetzung: Einheitsübersetzung)

Diese Aufforderung ergeht an das jüdische Volk, das nach Babylon deportiert worden war. Aber auch uns, die wir zu den Verheißungen Gottes an sein Volk hinzugekommen sind, gilt diese Aufforderung: Wir haben Verantwortung für die Gestaltung des Gemeinwesens. Und wir können eine Menge dazu beitragen: Wir kennen Gottes Weisungen für unser Leben – er selbst hat sie uns in unser Herz und in unseren Verstand gepflanzt.

So können wir eintreten gegen Machtkonzentration und Vereinheitlichung ebenso wie gegen ein Auseinanderdriften von Meinungen. Wir können uns einer Sprachlosigkeit entgegenstellen, die eintritt, weil wir uns nicht mehr verstehen können oder verstehen wollen.

Lassen wir uns von Gottes Geist durchwehen und begeistern

Die Jüngerinnen und Jünger in Jerusalem hatten sich ängstlich zurückgezogen. Auf einmal setzte sie Gottes Geistkraft mit Macht in Bewegung: Sie gingen nach draußen, in die Stadt, die voll war wegen eines großen Festes. Sie erzählten von Gottes Willen für uns – und alle Menschen verstanden sie, woher sie auch immer kamen, welche Sprache sie auch sprachen.

Die Sprachenvielfalt wie in Babel und das gemeinsame Verstehen wie in Jerusalem: wir brauchen beides. Gottes Geist hilft uns, zu erkennen, wann das eine nötig ist und wann das andere. Lassen wir uns von ihm durchwehen und begeistern.

Babel und Jerusalem (Pfingsten 2020) Teil 2
von Pfarrer Kai Uwe Schröter
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